Interview mit Detlef Detjen, Geschäftsführer der Aktion Gesunder Rücken e. V.

Vor 25 Jahren – genauer gesagt am 2. Mai 1995, wurde aus der Initiative „Aktion Gesunder Rücken“ ein eingetragener Verein und somit die Geburtsstunde vom Aktion Gesunder Rücken (AGR) e. V. Anlass, noch einmal die Entstehung Revue passieren zu lassen – und wen könnten wir dazu besser befragen als Detlef Detjen, heutiger AGR-Geschäftsführer und Zeitzeuge, der vom ersten Tag dabei ist.

AGR aktuell: Detlef, du bist von Anfang an dabei. Also für uns der perfekte Gesprächspartner zum AGR-Jubiläum. Wer kam denn damals auf die außergewöhnliche Idee, die Aktion Gesunder Rücken zu gründen?

Detlef Detjen: Ideengeber war Dr. Günter Neumeyer. Dieser war in den 90er Jahren praktizierender Arzt in Hollenstedt (bei Hamburg) und gar nicht weit weg von unserem heutigen Standort. Dr. Neumeyer, damals schon über 70, sah sich in seiner Sprechstunde immer wieder mit Fragen seiner Patienten konfrontiert, die er trotz seiner medizinischen Ausbildung nur sehr schwer beantworten konnte. So kam beispielsweise immer wieder die Frage nach dem „richtigen Bett“ gegen Rückenschmerzen auf. Neumeyer erkannte, dass er von seinen Patienten auch in diesem Bereich als vermeintlicher Experte gesehen wurde, kam jedoch zu der Erkenntnis, dass nicht nur ihm, sondern auch vielen Kollegen fachliches Know-how rund um die Rückenfreundlichkeit von Alltagsprodukten fehlte.
Wie es der Zufall so will, ist Dr. Neumeyer ein guter Freund der Bremervörder Unternehmerfamilie Thomas. Er kennt und schätzt deren Produkte seit vielen Jahren. Bei einem gemeinsamen Abendessen erzählte er Wilfried Thomas von seinem Problem und seiner Idee: einer zentralen Institution bzw. Akademie, die rückengerechte Produkte findet und Ärzte und Therapeuten darüber informiert. Diese durchaus ungewöhnliche Idee fand die Unterstützung des Unternehmers.

Und wie ging es dann damals los?

Zunächst wurde ein kleines Team zusammengestellt, welches ausgewählte ergonomische Produkte wie Lattoflex-Betten, Recaro Autositze und Drabert Bürostühle medizinischen Fachleuten vorstellte. Ziel war es, die Experten als Multiplikatoren zu gewinnen.
Zu unserem Team gehörten neben mir unser „Bayer“ Norbert Grigat, unser „Schwabe“ Ulrich Strauß sowie die „Nordlichter“ Andrea Martens und Georg Stingel.
Ganz im Sinne einer „Akademie“ wurden nach und nach Patienten-Ratgeber (das heutige „AGR-MAGAZIN“), Vortragssets, eine PC-Rückenschule („unser größter Flop“, Detlef schmunzelt), der AGR-Newsletter (die heutige „AGR aktuell“) etc. entwickelt. Unser Ziel war es, mittelfristig 300 Praxen zu finden, die dieses von uns vermittelte Wissen an ihre Patienten weitergeben können. Mit Stolz kann ich heute sagen: Ziel erfüllt – wir haben inzwischen über 7600 Partner in diesem Bereich.

Wie kamen diese Ideen denn in medizinischen Fachkreisen an?

Sensationell! Wir trafen auf ein kritisches, aber dennoch sehr neugieriges Fachpublikum. Der Sinn, ein rückengerechtes Umfeld zu schaffen, wurde sofort erkannt. Die Begeisterung war groß, nachdem wir die vorgestellten Produkte ausführlich erläutert hatten.
Die Resonanz war so überwältigend, dass wie sehr schnell an der Grenze des Machbaren waren. Wir hatten wesentlich mehr Anfragen als freie Termine. In den Gesprächen erkannten wir, dass es wesentlich mehr Produktthemen gibt, die die Rückengesundheit positiv oder negativ beeinflussen können, als wir uns damals vorstellen konnten. So kamen wir auf die Idee, nicht nur einen kleinen Teil des Tages zu berücksichtigen, sondern rückengerechte Produkte zu finden, die den Menschen rund um die Uhr begleiten.

War das nicht unheimlich aufwendig und zeitintensiv?

Auf jeden Fall. Unser damaliger Weg, medizinische Fachleute zu überzeugen, war viel zu zeit- und kostenintensiv. Die Produkte quer durch die Republik zu fahren, um sie vor Ort zu erklären, war kaum mehr zu bewältigen. Mal abgesehen von der finanziellen Herausforderung.

Und was habt ihr dann gemacht?

Rückblickend klingt es sehr banal, dennoch war es eine große Herausforderung. Wenn man sich selbst mit einer Sache nicht so gut auskennt, dann sucht man Hilfe bei einem Freund, einem Vertrautem oder einem Kollegen. Und so kamen wir gemeinsam mit zwei inzwischen sehr vertrauten Verbänden auf das AGR-Gütesiegel. Mit dem Forum Gesunder Rücken – besser leben e. V. und dem Bundesverband deutscher Rückenschulen (BdR) e. V. schlossen wir 1995 die Vereinbarung, Produkte von einem interdisziplinären Expertengremium zertifizieren zu lassen. Beide Verbände stellen seit nunmehr 25 Jahren eine unabhängige, sehr kompetente Expertenkommission, die Produkte auf ihre Rückenfreundlichkeit überprüft. Das Gütesiegel hat inzwischen eine so hohe Akzeptanz, dass Ärzte und Therapeuten unsere Medien nutzen, ohne sich persönlich von den Produkten überzeugen zu müssen – Sie vertrauen auf Ihre Kollegen aus dem Prüfungsgremium.

Und wie habt ihr das finanzielle Problem gelöst?

Bei unseren anfänglichen Gesprächen mit den Experten und unserer Arbeit, den Menschen aufzuzeigen, was sie persönlich für mehr Rückengesundheit tun können, haben wir festgestellt, dass die Hersteller ebenfalls von unserer Arbeit profitieren. So kam es zur lizenzpflichtigen Vergabe des AGR-Gütesiegels an immer mehr Unternehmen. Hinzu kamen die kostenpflichtige Schulung von Fachgeschäften, die Ausbildung der AGR-Referenten sowie die Mitgliedsbeiträge unserer Fördermitglieder, bei denen ich mich hier noch einmal ausdrücklich bedanke. Mit all diesen Maßnahmen konnte nach und nach unsere Finanzierung gesichert und die Aktivitäten konnten ausgebaut werden.

Nun ist die Bekämpfung des Volksleidens „Rückenschmerzen“ ja eine ziemliche Herausforderung. Bekommt ihr denn da irgendwelche Unterstützung?

Selbstverständlich, sehr wichtige sogar. Die Ursachen von Rückenschmerzen sind bekannterweise sehr komplex. Also haben wir Gespräche mit den Fachverbänden der Orthopädie, Physio- und Ergotherapie, der Psychologie, der Ernährungswissenschaft, der Arbeitsmedizin etc. aufgenommen und unsere Arbeit, das Gütesiegel und unsere Ziele vorgestellt. Das Ergebnis lässt sich sehen: Inzwischen haben wir mit aktuell 36 Verbänden eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Dahinter stehen über 150.000 medizinisch/therapeutische Fachleute, die die sogenannte Allianz gegen Rückenschmerzen bilden – das ist einmalig und wir sind unseren Partnern zu großem Dank verpflichtet.Übersicht Allianz 03 2020

Die AGR ist sehr umtriebig, man findet euch auf Messen und alle Jahre wieder taucht er auf, der „Tag der Rückengesundheit“ (TdR), was hat die AGR damit zu tun?

Der „Tag der Rückengesundheit“ wiederholte sich in diesem Jahr, genauer gesagt am 15. März, bereits zum 19. Mal. Initiator des bundesweiten Aktionstages war das Deutsche Grüne Kreuz (DGK) – wobei die AGR sehr schnell als unterstützender Partner mit dabei war. Als das DGK sich dann bedauerlicherweise mit seinem Engagement zurückziehen musste, übernahmen die AGR und seit einigen Jahren der BdR als neuer Partner diesen Aktionstag. Der dazugehörige „Expertenworkshop“, eine massive Präsenz in den Medien sowie viele regionale Veranstaltungen unter einem übergeordneten Thema prägen bis heute den „Tag der Rückengesundheit“. Und das hilft uns, immer wieder auf das Thema Rückengesundheit aufmerksam zu machen.

Der TdR ist ja nur ein Baustein. Welche weiteren wichtigen Meilensteine gibt es aus deiner Sicht in der AGR-Geschichte?

Tja, eigentlich sind es die vielen kleinen Dinge, die etwas Großes entstehen lassen. Dennoch möchte ich mal drei Dinge ansprechen. Zum einen 2006, damals haben wir uns entschlossen, das bei uns gesammelte Wissen zur Verhältnisprävention in eine Fortbildung (Fernlehrgang) zu packen. Inzwischen gibt es mehrere hundert gut ausgebildete AGR-Referenten, die die Verhältnisprävention in Form von Vorträgen und Beratungen – und immer häufiger auch in Unternehmen, in Kursen, in ihren Praxen usw. – weitergeben.
Ganz wichtig in unserer Aufklärungsarbeit sind die Medien. Die AGR ist ein gefragter Ansprechpartner für die Medien und auch für uns ist die gute Zusammenarbeit mit den Medien ein wichtiger Baustein unserer Arbeit. So haben wir jährlich über 8000 Artikel (Print und Online) mit AGR-Beteiligung. Das ist natürlich eine riesige Unterstützung unserer Aufklärungsarbeit – um die uns so manch ein Industrieunternehmen beneidet.
Na, und dann hat es uns sehr gefreut, dass das AGR-Gütesiegel im Laufe der Jahre international geworden ist. Das Siegel ist inzwischen in über 30 Sprachen verfügbar und weltweit an rückengerechten Produkten zu finden. Nicht nur, dass deutsche Firmen es im Ausland einsetzen, auch ausländische Firmen sind bereits auf uns zugekommen.

Das ist ja interessant, hast du da mal ein Beispiel?

2014 klingelte bei mir, wie so oft, das Telefon und am anderen Ende der Leitung befand sich ein Mitarbeiter des führenden Automobilhersteller aus Südkorea – die Firma Hyundai war am Apparat. Die Sitze eines neuen Fahrzeugs sollten für ihre besondere Ergonomie ausgezeichnet werden. Dazu wurde weltweit nach einer Institution gesucht, die Sitzergonomie seriös und glaubwürdig bewerten kann. Nach intensiver Recherche blieb am Ende nur die AGR übrig. Das war natürlich ein Riesenlob für unsere Arbeit. Etwas zögerlich schilderte ich den Ablauf und machte auf das Problem aufmerksam, dass die Prüfung nur in Deutschland stattfinden kann.
Und so wurde kurzerhand in geheimer Mission der streng bewachte Erlkönig, begleitet von vier Ingenieuren aus Südkorea, nach Deutschland zur Zertifizierung eingeflogen. Der Aufwand lohnte sich, denn als erstes asiatisches Unternehmen erhielt Hyundai für seine in Deutschland noch unbekannte Marke „Genesis“ das Gütesiegel für seine Sitze.

Die AGR prüft ständig neue Produkte und man fragt sich ja heutzutage immer öfter, was es denn mit einem Siegel so auf sich hat und ob man denn der Aussage vertrauen kann. Wie sieht das denn bei dem Gütesiegel aus?

Dem kann man ruhigen Wissens vertrauen, denn auch das Gütesiegel ist schon zweimal überprüft worden und wir haben sehr erfolgreich abgeschnitten. Im Jahr 2005 untersuchte Ökotest 264 Gütesiegel und zeichnete das AGR-Gütesiegel mit „sehr gut“ aus. 2014 erfolgte die Überprüfung durch „Label-online“, einem Portal des Bundesverbandes „Die Verbraucher Initiative e. V.“, welches Gütesiegel unter die Lupe nimmt und von zwei Bundesministerien gefördert wird. Ich durfte damals stundenlang Fragebögen ausfüllen und anschließend noch einige Male mit den Prüfern telefonieren. Dabei wurde jede Kleinigkeit hinterfragt. Die Mühe lohnte sich. Label-online zeichnete das AGR-Gütesiegel mit der Bestnote als „Besonders empfehlenswert“ aus.

Bei jedem Rückblick stellt sich abschließend auch ein wenig die Frage: Und wie geht’s weiter bei der AGR?

Es gibt noch eine ganze Menge für uns zu tun. Denn obwohl wir bereits Produkte in über 100 Themenbereichen zertifiziert haben, gibt es noch genügend unbearbeitete Bereiche. Hierauf liegt unser Fokus in den kommenden Monaten. Glücklicherweise mangelt es auch nicht an Anfragen, auch wenn leider bei weitem nicht alle Produkte das halten, was die Hersteller versprechen. Die wirklich guten Produkte herauszufiltern, ist dann die Aufgabe unserer medizinischen Experten.
Zudem entwickelt sich das Gütesiegel permanent weiter. So bezogen sich die 1995 definierten Anforderungen immer nur auf das eigentliche Produkt und auch das Prüfungsgremium ist mit seinen Anforderungen heute sehr viel strenger und genauer. Es werden nicht nur „Produkte“, sondern inzwischen auch ganze Konzepte (z. B. das Konzept Industriearbeitsplatz oder Konferenzarbeitsplätze) zertifiziert. Das ist auch sehr wichtig, denn manchmal macht erst die Kombination von rückengerechten Produkten eine gute Lösung aus.
Wir haben ein sehr gutes, dynamisches Team, einen Mix aus Erfahrung und Neugier, also eine sehr gute Basis für die positive weitere Entwicklung.
Eines möchte ich abschließend noch sagen, Danke an all die vielen Verbände, Experten und Freunde der AGR, die uns tagtäglich bei unserer Arbeit unterstützen – vielen Dank!
Ein ganz großes Dankeschön geht jedoch an Dr. Neumeyer, ohne den ich hier heute nicht dieses Interview gegeben hätte. Er vollendete am 10. Januar 2020 sein 99. Lebensjahr. Noch heute – im fast biblischen Alter – verfolgt er die Entwicklung seiner AGR. An dieser Stelle herzliche Grüße an Dr. Neumeyer.

Detlef, vielen Dank für das Gespräch.