Lange galten Rückenschmerzen als rein orthopädisches Problem. Doch mehr und mehr rückt eine weitere Ursache in den Vordergrund: die Psyche. Mehrere Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass bei mehr als 30 Prozent der Betroffenen die Psyche, und hier vor allem Stress, der schmerzauslösende Faktor ist. AGR-Experte Dr. Reinhard Schneiderhan über dieses Phänomen und die Behandlungsmöglichkeiten.

Der Orthopäde stand vor einem Rätsel. Seine Patientin machte alles richtig. Sie achtete auf ihr Gewicht, fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit, zog die Treppen den Fahrstuhl vor und ging als Ausgleich zu ihrer sitzenden Tätigkeit regelmäßig in die Sportgruppe des ortsansässigen Vereins. Doch die Quittung für dieses vorbildliche Verhalten? Kreuzschmerzen, die ihr Tag für Tag das Leben zur Hölle machten.

Es hat eine Zeitlang gedauert, bis die Schulmedizin erkannte, dass nicht alleine defekte Bandscheiben oder verrutschte Wirbel schuld an Rückenschmerzen sein können. „Es kommt immer wieder vor, dass Patienten in unsere Klinik kommen, die keinerlei Auffälligkeiten im Röntgenbild oder anderen bildgebenden Verfahren zeigen“, sagt Dr. Reinhard Schneiderhan vom gleichnamigen Medizinischen Versorgungszentrum in München-Taufkirchen. „Bei diesen Patienten müssen wir gezielt nachhaken, denn oft liegen dann psychische Probleme vor.“

Jede Form von Stress, sei es im Job, in der Familie oder in der Liebe, lässt die Muskeln verspannen und das verursacht Schmerzen. So genannte elektromyografische Messungen haben das deutlich gezeigt. Für viele klingt das zunächst vielleicht etwas seltsam, doch der Rücken merkt sich alles. Und schlechte Erinnerungen sind es, die unsere Schmerzwahrnehmung nachträglich beeinflussen.

Dazu ein Beispiel: Droht Ärger mit dem Chef, reicht alleine schon der Gedanke an das nächste Meeting aus, und der Rücken schmerzt. „Das liegt daran, dass sich die Rückenmuskeln verspannen und verhärten“, sagt Dr. Schneiderhan. „Mit Folgen für Wirbelsäule und Nerven. Das kann so weit gehen, dass einzelne Wirbelkörper verkannten und auf die Nerven drücken.“

Die typischen Rückenpatienten mit Stress als Ursache sind hart arbeitende Menschen mit hohem Leistungsanspruch an sich selbst. Sie sind meist gewissenhaft und überkorrekt. „Außerdem sind sie nicht in der Lage, im Alltag Entspannungspausen einzulegen“, sagt der Experte. „Meist verdrängen sie ihren Gesundheitszustand oder wollen ihn einfach nicht wahrhaben. Das führt unweigerlich zu einer Überlastung von Muskeln, Bändern und Gelenken.“

Für Ärzte ist es oft gar nicht so einfach, diesen Typus von Menschen zu identifizieren. Vor allem Männer sind nur selten bereit zuzugeben, dass ihnen die Arbeit oder private Probleme über den Kopf wachsen. „Das bedarf Erfahrung und idealerweise ein interdisziplinäres Team mit Ärztinnen und Ärzten verschiedener Fachrichtungen“, sagt Dr. Schneiderhan. „Wenn trotz eingehender körperlicher Untersuchung und bildgebenden Verfahren keine Diagnose möglich ist, müssen wir an die Psyche denken und hier gezielt Fragen stellen. Ansonsten werden völlig überflüssige Behandlungen, oder noch schlimmer, eine unnötige OP angeordnet.“

Mit einem gezielten Stressmanagement und leicht zu erlernenden Entspannungsverfahren ist es möglich die Stresskaskade zu durchbrechen. Vor allem Muskelentspannung nach Jacobsen gilt als probate Maßnahme. „Diese Methode kann man sich selbst gut beibringen oder in einem Volkshochschulkurs lernen“, sagt Dr. Schneiderhan. „Doch manchmal kann es auch Sinn machen, professionelle Hilfe bei einem Psychologen oder Psychiater zu suchen.“

Weitere Infos: www.orthopaede.com