Trendsport - Bild: ©Getty Images/Martin DimitrovErgebnisse des "Dritten Deutschen Kinder- und Jugendsportberichts"
Essen, 14. August 2015. Bewegung, Sport und Spiel gehören seit jeher zum Alltag von Kindern und Jugendlichen. 96 Prozent aller befragten Jugendlichen über zwölf Jahre gaben 2013 in einer Studie des Deutschen Jugendinstituts an, mindestens einmal über längere Zeit hinweg regelmäßig Sport getrieben zu haben. Ob sie im Verein aktiv sind oder im Fitness-Studio, ausschließlich Schulsport betreiben oder sich zum Fußballspielen und Radfahren mit Freunden treffen - Heranwachsende haben einen natürlichen Bewegungsdrang, den die meisten mit Leidenschaft ausleben. Wie sehr sich jedoch ihr Zugang zum Sport und die Formen des ausgeübten Sports in den letzten Jahren verändert haben, zeigt der "Dritte Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht", der von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung initiiert wurde. Die eindeutige Aussage des Berichts lautet: Der Kinder- und Jugendsport in Deutschland befindet sich im Umbruch.
Für den 640-seitigen Bericht haben Sportwissenschaftler, Pädagogen, Sportmediziner und Sportsoziologen den Wandel des Sportengagements bei Heranwachsenden untersucht. Dabei stellten sie fest: Ein Teil dieser Entwicklungen erfolgt als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen, ein anderer entsteht aus sportinternen Entwicklungen heraus. Die neuen Rahmenbedingungen bewirken, dass auch der Kinder- und Jugendsport neue Wege geht. Dieser fortschreitende Prozess des Umbruchs kann mit ausreichend Engagement aller Beteiligten in richtungsweisende Bahnen gelenkt werden.
Die Auswirkungen von Ganztagsschule und Gymnasium G8
Eines der Hauptthemen des Berichts ist das Zusammenspiel von Sport und Schule. Sport ist nach wie vor sowohl das beliebteste Unterrichtsfach als auch die beliebteste Freizeitaktivität von Kindern und Jugendlichen: Etwa 80 Prozent nennen in Befragungen sportbezogene Hobbys. Diese erfüllen in besonderem Maß ihr Bedürfnis nach Anerkennung, Gemeinschaft und einem starken Selbstwertgefüh. Durch Veränderungen im Bildungswesen wie die Etablierung von Ganztagsschulen und die Verkürzung der Gymnasialschulzeit auf acht Jahre (GS) verbringen die Kinder jedoch heute mehr Zeit als früher in schulischen Einrichtungen und beim Lernen am heimischen Schreibtisch. Sportliche Aktivitäten im Verein am schulfreien Nachmittag gehören für viele Heranwachsende der Vergangenheit an. Das führt verbreitet dazu, dass sie sich weniger bewegen, was insbesondere Sportmediziner alarmiert. Sie weisen in dem Bericht auf die gesundheitlichen Kurz- und Langzeitfolgen hin, die direkt mit Bewegungsmangel im Zusammenhang stehen.
Um diesen Risiken entgegenzuwirken, kooperieren Ganztagsschulen und Sportvereine bereits vielfach und schaffen ein Angebot im Schnittfeld von Schulsport und Vereinstraining. Etwa jedes dritte Ganztagsangebot ist ein Sportangebot Ziel ist, die weitere Reduktion von Bewegung, Sport und Spiel zu verhindern und diese Faktoren stattdessen verstärkt in den Tagesablauf der Schüler zu integrieren. Doch noch begegnen sich Schule und Verein selten auf Augenhöhe, um gemeinsame Zielsetzungen zu vereinbaren. Nach Meinung der Experten lässt sich daher das pädagogische Entfaltungspotenzial der Ganztagsangebote weiter optimieren und die Zusammenarbeit von Schule und Verein intensivieren.
Soziale Ungleichheiten durch Sport überwinden
Der "Dritte Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht" beleuchtet auch soziale Ungleichheiten und deren Manifestation im Sport. Fastjeder dritte Heranwachsende stammt heute aus einem Elternhaus, das von Armut bedroht ist, in dem die Eitern arbeitslos sind oder keine ausreichenden Schulabschlüsse besitzen. Diesen Kindern bleibt der Zugang zu vielen erstrebenswerten sozialen Gütern verbaut. Die materiellen Einschränkungen, denen sie unterworfen sind, führen in der Regel zu großen Nachteilen bei der Teilhabe an Bildungschancen, der Gesundheitsfürsorge und kulturellen Angeboten. ln diesem Zusammenhang untersucht der Bericht unter anderem die Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe, die ohne Sport kaum noch vorstellbar wäre. Sie wirkt in zweierlei Hinsicht auf die Kinder und Jugendlichen: zum einen als eine Sozialisation für den Sport und zum anderen als eine Sozialisation durch den Sport. Das Gemeinschaftserlebnis animiert die Kinder zum Mitmachen, sie können Kontakte zu Gleichaltrigen aufbauen, und ihr Selbstwertgefühl stärken.
Multikulturelles Miteinander im Sport
Alle sprechen über das Integrationspotenzial des Sports, doch zu wenige erkennen, dass Integration durch Sport kein Automatismus ist. Sport eignet sich hervorragend als Medium, um die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu erreichen. Sie können durch Sport mehr Lebensfreude erfahren und eine bessere Selbsteinschätzung entwickeln. Auch Kleinkinder können schon im Alter von zwei oder drei Jahren von bewegungsbezogener Sprachförderung profitieren und leichter die deutsche Sprache erlernen, die oft nicht zuhause gesprochen wird.
Allerdings stellt der Dritte Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht ebenso fest, dass es dem Sport noch an zielgerichteten pädagogischen Konzepten für Integrationsarbeit mangelt. Gemeinsames Fußballspielen oder Krafttraining münden nicht ohne weiteres in einen erfolgreichen lntegrationsprozess. Um die benötigten pädagogischen Konzepte zu erarbeiten und erfolgreich umzusetzen, müssten Sportvereine und Migrantenorganisationen jedoch zukünftig verstärkt zusammenarbeiten, so die Wissenschaftler. Zudem sollte der organisierte Sport noch aktiver, früher und mit niedrigschwelligen, lokalen Angeboten auf die betroffenen Familien zugehen. Nur dann, glauben die Experten, kann die integrative Kraft des Sports auch tatsächlich genutzt werden.
Leistungssport im Jugendalter: chronische Überbelastung kann Jugendliche gefährden
Kaum eine Sportszene hat so großen Einfluss auf die Wahrnehmung des Sports in der breiten Öffentlichkeit wie der Leistungssport. Die Wurzel für eine Sportkarriere in der internationalen Spitze wird in den meisten Sportarten bereits in der Kindheit oder in der Pubertät gelegt. Der Leistungssport stellt jedoch schon früh hohe, vielfach zu hohe Anforderungen an die Teilnehmer- bezüglich der Trainingsdauer sowie der physischen und der psychischen Dauerbelastung. Je nach Sportart müssen junge Athleten bis zu 35 Stunden Training pro Woche absolvieren. Dazu kommen in der Regel 34 Stunden Schule und im Ganztag nochmals mehr als zehn weitere Stunden. Jugendliche Leistungssportler haben somit über einen langen Zeitraum erhebliche Überbelastungen zu tragen. Dies gilt insbesondere für Kraft-/ Ausdauersportarten wie Schwimmen, Rudern oder Kanu sowie für kompositorische Sportarten wie Turnen und Gymnastik. Viele Sportmediziner sind alarmiert darüber, dass in den Leistungssport eingebundene Jugendliche häufig körperliche und psychische Probleme ausblenden und verdrängen, um nicht zurückzufallen oder gar ihre Förderung zu verlieren. Essstörungen sind im Leistungssport bei Heranwachsenden überproportional häufig zu beobachten. Die Wissenschaftler werfen daher in dem Bericht die Frage auf, ob die Anforderungen des Leistungssports an Kinder und Jugendliche in der jetzigen Form überhaupt noch verantwortbar sind.
Sexualisierte Gewalt im Sport
Der "Dritte Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht" wagt sich auch an ein Thema heran, das in der Sportweit immer noch stark tabuisiert wird: sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Die Wissenschaftler äußern daher in dem Bericht die Erwartung, dass sich der organisierte Sport der Problematik zukünftig intensiver als bisher annimmt und eine Kultur der Achtsamkeit im Sport fördert. Insbesondere sei es wichtig, alldiejenigen Personen besser zu qualifizieren, die mit Heranwachsenden im Sport zu tun haben. Die Frage, wie dem Problem der sexualisierten Gewalt wirkungsvoll begegnet werden kann, müsse fester Bestandteil der Aus- und Fortbildung von Übungsleitern, Trainern sowie Verantwortlichen in den Vereinen und Verbänden werden.
Trendsport in der Jugendszene
Besonders populär und mit der Aura der Insider-Szene umgeben ist der Trendsport- ein spannender Bereich, der sich in zahlreichen Aspekten vom übrigen Sport in Deutschland unterscheidet. ln seiner Vielfalt von Sportarten ist er zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Sport und Bewegungskultur von Heranwachsenden geworden. Ständiges ln Bewegung-Sein und eigenwillige Ausdrucksformen prägen dabei das Bild. Der Trendsport in allseinen Formen zeichnet sich durch den Hang zur Selbstinszenierung und die permanente Erlebnissuche aus- offline sowie online. Jugendliche Trendsportler stehen im ständigen multi-medialen Austausch mit Gleichgesinnten. Die Kommunikation über die eigenen sportlichen Aktivitäten ist zum integralen Bestandteil des Sports geworden und dokumentiert das besondere Lebensgefühl des Trendsportlers. Daran knüpft auch die mediale Vermarktung der Trendsportarten durch Sponsoren, Werbewirtschaft und Jugendmedien an. Zu jeder Trendsportart gehört eine Szene, in der eigene Rituale und Bedeutungen vorherrschen ebenso wie ein eigener Stil und eine eigene Sprache. Durchall diese Eigenarten unterscheidet sich der Trendsport grundlegend von den herkömmlichen, historisch gewachsenen Sportszenen. Insbesondere für Sport- und Medienwissenschaftler bietet der Trendsport noch ein weites Feld für die Forschung.
Paradoxe Lage des deutschen Kinder- und Jugendsports
Der Kinder- und Jugendsport in Deutschland steht vor einer paradoxen Situation: Obwohl die Sportszenen sich weiter ausdifferenzieren und immer neue Sportangebote hinzukommen, leiden Kinder und Jugendliche immer stärker unter BewegungsmangeL Die Kinder sitzen häufiger und länger im Unterricht oder über ihren Hausaufgaben; gleichzeitig wird der Sportunterricht in der Schule reduziert. Mediziner beobachten zunehmend gesundheitliche Probleme bei Kindern und Jugendlichen, wie Koordinationsstörungen, Haltungsschäden oder Übergewicht. Hier müssen Schule, Vereine und Politik gemeinsam Lösungen finden.
Ein Blick über den Tellerrand hinaus zeigt, dass auch in anderen Ländern ähnliche Schwierigkeiten bestehen wie in Deutschland. Um Sport und Spiel für Kinder so attraktiv wie möglich zu gestalten, hat daher Norwegen die "Kinderrechte des Sports" eingeführt, welche die Verbände und Vereine zu besonders achtsamem Umgang mit Heranwachsenden verpflichten. Dazu gehören unter anderem: ein sicheres Trainingsmilieu; Sorge um das Wohlbefinden der Kinder gemäß ihrem Alter und ihrer körperlich-seelischen Entwicklung; Mitspracherecht und Wahlfreiheit der Kinder; Relativierung der Bedeutung von wettkampfmäßig betriebenem Sport. Viele Experten sehen in dem norwegischen Modell einen Ansatz, der auch in Deutschland ernsthaft diskutiert werden sollte.
Insgesamt zeichnet der "Dritte Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht" ein klares Bild der aktuellen Umbruchsituation im Kinder- und Jugendsport in Deutschland und gibt für die Praxis eindeutige Handlungsempfehlungen.
Die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung
Die gemeinnützige Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung ist das Vermächtnis von Dr.-lng. E.h. Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, dem letzten persönlichen Inhaber der Firma Fried. Krupp. Mit seinem Tod am 30. Juli 1967 und Dank des Erbverzichts seines Sohnes Arndt von Bohlen und Halbach ging sein Vermögen auf die Stiftung über.
Die Stiftung ist als Aktionärin mit 23,03% an der ThyssenKrupp AG beteiligt. Sie hat insbesondere die Aufgabe, die ihr aus ihrer Unternehmensbeteiligung zufließenden Erträge für gemeinnützige Zwecke in den Bereichen Wissenschaft, Erziehung und Bildung, Gesundheitswesen, Sport und Kultur zu verwenden. Seit Aufnahme ihrer Tätigkeit im Jahre 1968 hat sie hierfür rund 630 Mio. Euro aufgewendet.
Buchhinweis
"Dritter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht - Kinder und Jugendsport im Umbruch"
Herausgegeben von Werner Schmidt (Gesamtleitung).
Nils Neuber, Thomas Rauschenbach, Hans Peter Brandi-Bredenbeck, Jessica Süßenbach und Christoph Breuer
Hofmann-Verlag 2015 (Bestellnummer 891 0)
ISBN 978-3-7780-8910-1
Das Buch ist zum Preis von 49,90 € über den Buchhandel zu beziehen.
Quelle: Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung
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