AGR aktuell Ausgabe Herbst 2022

Geprüft & empfohlen 12 AGR aktuell 2022/68 | Aktion Gesunder Rücken e. V. vier und 20 Jahren (Huber, Köppel 2017). Diese Ergebnisse decken sich mit denen aus internationalen Studien (Matthews et al. 2008, Ortega et al. 2013). Damit wird klar: Stundenlanges Sitzen in Kita und Schule, die unreflektierte Nutzung von Computern, Smartphones, Spielekonsolen und Fernsehern sowie der Rückgang an spielerischen und selbstorganisierten Bewegungen stellen sich zunehmend als Entwicklungsbremse heraus. Innenräume müssen mehr Bewegung einfordern Heute verbringen Heranwachsende in Kindergärten, Schulen, Ganztagseinrichtungen und Freizeit mehr Zeit in geschlossenen Räumen als früher. Die Räume – auch die, in denen gegebenenfalls Home-Schooling stattfindet – sollten deshalb so gestaltet sein, dass sie bedarfsgerechte und entwicklungsfördernde körperliche Aktivitäten nicht nur ermöglichen, sondern regelrecht einfordern. So sollten solche Räume Verhältnisse aufweisen, in denen Kinder nur wenig Zeit mit passivem Stillsitzen verbringen und stattdessen zu vielseitigen Positionswechseln angeregt werden. Offene Spiel-/Lernsituationen sowie wechselnde Sozial- und Organisationsformen sorgen automatisch dafür, dass Kinder ihre Körperpositionen häufig wechseln und an vielfältige Situationen anpassen. Möbel sollten in diesen Räumen so mobil und flexibel handhabbar sein, dass sie an unterschiedlichen Orten für vielfältige (Lern-/Spiel-) Erfordernisse eingesetzt werden können. Das heißt, sie sollten statisch-passives Sitzen auf Dauer verhindern und stattdessen aktiv-dynamische Sitz- und Positionswechsel sowie Bewegung im Raum ermöglichen. Dazu gehören unter anderemmobile Stehpulte, „Stehinseln“ und Bodenkissen. Die Verhältnisse fungieren gerade in einem Alter, wo ein intrinsisches Bewegungsverhalten noch stark ausgeprägt ist, als nonverbale Reize, die vielfältige spontane Positionswechsel zur Folge haben. Grundsätzlich ist wünschenswert, dass die Möblierung in Lern- und Wohnräumen so gestaltet ist, dass Schüler bei der Auseinandersetzung mit ihren Tätigkeiten die größtmögliche Haltungs- und Bewegungsfreiheit haben. Damit ist ein erster wichtiger Schritt zu einem bewegten Lebensalltag getan. Seit einigen Jahren beschäftigen sich auch Hirnforscher intensiv damit, welchen Einfluss die Raumgestaltung auf strukturelle und funktionale Veränderungsprozesse im Gehirn hat. In Tierexperimenten konnte man sehen, dass reizreichere und herausfordernde Raumumgebungen, auch als „enriched environment“ bezeichnet, das Wohlbefinden, die Lernleistung und die Anpassungsfähigkeit des Gehirns fördern (Ickes et al. 2000). Somit wird deutlich: Raum und Mensch beeinflussen sich gegenseitig – Räume bilden und werden gebildet; Räume gestalten und werden gestaltet; Räume schaffen Gelegenheiten für Verhalten, indem sie Handlungsspielräume öffnen oder verschließen. Oder auch: Verhältnisse verführen zu Verhaltensweisen. Denn am Ende geht es vor allem darum, sich „aktiver“ zu verhalten, also bereits auch schon darum seine Haltungspositionen häufiger zu wechseln. Und das fällt einem auf dem Boden viel einfacher als auf einem handelsüblichen Stuhl, der einem kaum Spielraum zur Bewegung gibt. Vorteile eines bodennahen Verhaltens Kinder, die Zeit auf dem Boden verbringen, wechseln auf natürliche Art sehr spontan regelmäßig und in kurzen Zeitfrequenzen ihre Haltungspositionen. Dies ist bedarfskonform, weil unter anderem Entwicklungsprozesse dies einfordern. Selbst wenn sie auf einem starren Stuhl sitzen, kommt es zumunruhigen Hin- und Herrutschen bzw. zu Kippelaktionen. Einfach ausgedrückt: Ihre hochsensiblen sensomotorischen Reifungsprozesse und auch ihre neurophysiologische Reifung fordern regelmäßige Bewegungsreize ein. Außerdem verfügt ein offenes und komplexes System, wie das menschliche, über eine Art „Frühwarnsystem“. Das heißt, dass spezielle körpereigene Sensoren, gerade bei der Einnahme von starren Haltungspositionen, den sich kontinuierlich aufbauenden „Diskomfort“ rechtzeitig, ohne unser Bewusstseinszentrum in Anspruch zu nehmen, erkennen und eine Positionsveränderung einleiten, bevor es zu schmerzhaften Bewusstseinserfahrungen kommt. Der sich selbst organisierende Spiel- und Standbeinwechsel bei einem freistehenden Menschen ist das beste Beispiel hierfür. Dadurch nutzen wir das komplette Bewegungsrepertoire unseres Körpers, aktivieren unterschiedliche Muskeln und Gelenke und bleiben einfach in einem rhythmischen und physiologischen Haltungswechsel. Denn durch die stetige Veränderung unserer Haltungspositionen auf dem Boden werden zudem stets andere Muskeln und Gelenke belastet und aktiviert, wodurch keine einseitige Beanspruchung unseres Haltungs- und Bewegungssystems stattfindet, wie es auf starren Stühlen oder anderen unflexiblen Sitzgelegenheiten oftmals der Fall ist.

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