AGR aktuell Ausgabe Herbst 2022

25 Interdisziplinäre Fachbeiträge AGR aktuell 2022/68 | Aktion Gesunder Rücken e. V. hohemWissen und Können zusammenfinden konnten, um den Patienten einen möglichst hohen Standard an Prävention und Therapie anbieten zu können. Veränderte Beanspruchung führt zu neuen Beschwerden In jüngster Vergangenheit konnte ein weiteres, nicht selten chronifizierendes Schmerzsyndrom gehäuft in der Orthopädie, nun auch in den Physiotherapiepraxen beobachtet werden: Störungen des kraniozervikalen Übergangs. Ursache dieses Symptomkomplexes sind längere Tätigkeiten mit flektierter Halswirbelsäule. Die Folge können Verspannungen und Schmerzen im Nacken bis hin zu Knochenmarksödemen am Os occipitale sein. Ein Beispiel ist die häufige Handynutzung: Studien (Shahar u. Sayers 2018) der University of the Sunshine Coast in Australien konnten zeigen, dass sich nicht nur Schmerz durch einseitige Bewegungen manifestiert, sondern auch das Okziput in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Handynutzung erfolgt meist im Stehen und Gehen, dabei wird der Kopf immer wieder gehoben, umHindernisse zu erkennen und ihnen ausweichen zu können. Dieser ständig unterschiedliche Zug der Sehnenansätze auf das Periost führt zur Kalzifizierung am Sehnenansatz. Die Hälfte der Studienteilnehmer zeigte am Hinterhaupt Sehnenverknöcherungen. Daraus resultiert eine fehlende Elastizität, welche zur möglichen Bewegungseinschränkung führt. Hinzu kommt, dass im Vergleich zur aufrechten Körperhaltung die Zugkräfte bei vorgeneigtem Kopf bis zu sechsfach stärker wirken. Die Veränderung des Skeletts ist eher bei Menschen im höheren Alter, durch die fortschreitende Degeneration, bekannt. Die Beobachtung der australischen Wissenschaftler ist deshalb besonders besorgniserregend, da hier muskuloskelettale Veränderungen bereits in frühen Lebensjahren durch veränderte Lebensgewohnheiten beobachtet wurden, vor allem bei jungen Personen, die exzessiv Smartphones und Tablets nutzen. Auch wenn diese Studie nicht völlig belegen konnte, dass die beobachteten Veränderungen allein auf die Smartphone-Nutzung zurückzuführen sind, ist allgemein bekannt, dass eine erhöhte Zugbelastung an einzelnen Strukturen zur Überlastung und somit zur Symptomsteigerung beitragen kann. Kraniomandibuläre Dysfunktion durch Fehlhaltung Überdies besteht ein Zusammenhang zwischen Fehlhaltungen der Halswirbelsäule und Kiefergelenk. Nicht selten werden Patienten mit einer kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) fehlbehandelt aufgrund einer falschen Diagnosestellung. Das Kiefergelenk (Articulatio temporomandibularis) stellt die bewegliche Verbindung zwischen Os temporale und Mandibula dar. Gerade das Os temporale bildet einen anatomischen Ankerpunkt für viele Strukturen. So ist zum Beispiel der Musculus sternocleidomastoideus mit dem Schädelknochen (Neurokranium – im Speziellen mit dem Os temporale) verbunden. Treten in diesem Bereich ein erhöhter Muskeltonus oder Blockaden auf, kann dies zu Fehlstellungen des Os temporale (bewegliches Kollagengewebe zwischen den Suturen) führen. Es treten Wechselwirkungen zwischen HWS, Kiefergelenk und Ohr auf, da Nerven, Bänder und Muskeln HWS und Kiefergelenk mit dem Gehörgang, dem Mittelohr und den Gesichts- und Kopfnerven verbinden. Ebenso liegen Anastomosen des N. trigeminus und N. suboccipitalis in diesem Bereich vor, welche bei Reizung nervale Schmerzen auslösen können. Symptome wie HWS-, Schulter- und Nackenbeschwerden, Kopfschmerzen, Hörminderung/-geräusche oder Missempfindungen, Schwindel, Sehstörungen, Schluckbeschwerden, Heiserkeit, Zahnschmerzen, Zahnknirschen und vieles mehr können Teil einer kraniomandibulären Dysfunktion sein. All dies kann durch Fehlhaltungen, schlechte Arbeitshaltung, Skoliosen oder gar Beinlängendifferenzen ausgelöst werden. Daher sollten Therapeuten, die Patienten mit derlei Symptomen betreuen oder die Fehlhaltungen am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, auch immer an die Diagnose CMD denken, und bei Bedarf Maßnahmen in diese Richtung ergreifen. Welche Therapieansätze neben der Vermeidung der auslösenden Verhaltensmuster notwendig sind, kann nur durch die individuelle Befundung erhoben werden. Quelle: Shahar D, Sayers MGL. Prominent exostosis projecting from the occipital squama more substantial and prevalent in young adult than older age groups. Int J Sci Rep 2018; 8(1): 3354. ' Kontaktinformationen Dorothea Haslinger Physiotherapeutin, Physiotherapie und Ergonomie Haslinger, Ergonomie & betriebliche Gesundheitsförderung, Leiterin des fachlichen Netzwerks Arbeit, Gesundheit und Prävention Physio Austria, Bundesverband der PhysiotherapeutInnen Österreichs | 1080 Wien Dorothea Haslinger

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