AGR aktuell Ausgabe 70

29 Interdisziplinäre Fachbeiträge AGR aktuell 2023/70 | Aktion Gesunder Rücken e. V. sich also im intakten zentralen Nervensystem befinden! Darüber hinaus zeigten Studien, dass die Intensität eines Schmerzes nichts mit der Intensität der Gewebeschädigung zu tun hat. Also eine schlimme Verletzung muss nicht unbedingt mit mehr Schmerzen einhergehen als eine weniger schlimme Verletzung. Schaden ist nicht gleich Schmerz und Schmerz ist nicht gleich Schaden! Schmerzen korrelieren kaum oder gar nicht mit dem Ausmaß der Gewebeschädigung! In einer Studie (Brinjikji et al. 2015) mit 3.110 schmerzfreien Patienten konnten { 60 Prozent der über 50-Jährigen mit einer Bandscheibenvorwölbung, { 80 Prozent der über 50-Jährigen mit Bandscheibendegenerationen und { 36 Prozent der über 50-Jährigen mit einem Bandscheibenvorfall identifiziert werden. Allesamt hatten keine Schmerzen! Ein anderes Beispiel ist die Fibromyalgie. Ein Fibromyalgie-Patient hat unzweifelhaft Schmerzen, ohne dass erkennbare Gewebeschäden dafür der Grund sein könnten. Ich selbst habe seit Jahrzehnten eine hochgradige Arthrose in meinem rechten Schultergelenk aufgrund einer spinalen Lähmung. Trotzdem habe ich keine Schmerzen. Das alte Schmerzmodell berücksichtigt also nicht die entscheidenden Mechanismen, die einen Schmerz im Gehirn und Rückenmark erst zum Schmerz machen! Seit den 90er Jahren gibt es Studien, die die Schmerzentstehung und -wahrnehmung in ganz anderer Richtung interpretieren. Das neue Verständnis von Schmerz ist: Der Ort dessen, was Schmerzen verursacht, verlagert sich von Gewebeschäden im Körper und dem peripheren Nervensystem (Gewebe, Knochen), das ihn umgibt, zum zentralen Nervensystem (Gehirn und Rückenmark). Dieses neue Schmerzmodell steht im Gegensatz zum alten – leider immer noch häufig verwendeten – Schmerzmodell. Schmerz entsteht auch unabhängig vom Gewebeschaden Was also produziert Schmerz? Was kann man selbst tun gegen den Schmerz? { Nicht der Gewebeschaden, sondern das Gehirn und das Rückenmark verursachen Schmerz! { Verschiedene Teile des zentralen Nervensystems arbeiten zusammen, um Schmerzen zu erzeugen! Wir müssen uns also von der Vorstellung verabschieden, dass Schmerz immer mit einem Gewebeschaden einhergehen muss. Dagegen müssen wir uns der inzwischen wissenschaftlich begründeten These zuwenden, dass das Zentralnervensystem das ist, was Schmerz erzeugt. Hier kommt der Begriff der Neuromatrix des Gehirns ins Spiel. Eine Idee, die Schmerzen aller Art erklärt – Schmerzen, denen entsprechende Gewebeschäden zugrunde liegen oder auch nicht. Mit Neuromatrix ist gemeint, dass mehrere Teile des Zentralnervensystems zusammenarbeiten, um Schmerz zu erzeugen. Die Teile des Zentralnervensystems, die diese Matrix bilden, sind: { Rückenmark, Hirnstamm und Thalamus, verschiedene Teile des limbischen Systems, { Hippocampus, anteriorer cingulöser Kortex, Inselrinde, somatosensorischer Kortex, { Motorkortex und präfrontaler Kortex. Aus dieser Idee der Neuromatrix heraus belegen inzwischen fundierte Studien, dass Schmerz nicht mehr allein aus biomechanischer oder physiologischer Sicht zu betrachten ist. Das moderne Schmerzverständnis zeigt, dass ebenso emotionale, kognitive, neurophysiologische und periphere Mechanismen zu beachten sind. Schmerzen verstehen (Schmerzedukation) Hochinteressant ist dabei, dass inzwischen sehr gut belegt ist, dass ein wesentlicher Erfolg in der Schmerztherapie darin besteht, dass der Patient über den Schmerz, seine Entstehung und seine Bekämpfung informiert wird. Dafür wurde das Konzept „Schmerzen verstehen“ entwickelt. Eine kognitiv-edukative Intervention mit dem Ziel, Patienten wissenschaftlich fundiert über die zugrunde liegenden neurophysiologischen Prozesse der Schmerzentstehung mit einfachen Worten und Erklärungen zu informieren. Dadurch wird die Schmerzmatrix nachweislich in erheblichem Ausmaß beeinflusst.

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